16.02.2011
Kanada ist Sieger der Pisa-Studie, ignoriert sie aber lässig. Dort versteht
man nicht, warum sich in Deutschland niemand mit Gerechtigkeit beschäftigt.
VON ANNA LEHMANN
BERLIN taz | Als ein deutscher Politiker Kanadas Premierminister Stephen
Harper im vergangenen Jahr zu den hervorragenden Pisa-Ergebnissen seines
Landes gratulierte, da hatte Harper ein großes Fragezeichen im Kopf. Harper
beugte sich zu seinem Botschafter und wisperte ihm zu: "Was habe ich mit
dieser kleinen Stadt in Italien zu tun?"
Der kanadische Botschafter in Deutschland, Peter M. Boehm, trug die
Anekdote in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vor.
Bundesbildungsministerium und Vodafone-Stiftung ließen dort über "Neue Wege
zur Bildungsgerechtigkeit" diskutieren. Die Pisa-Studie ist da stets die
Folie, vor der man diskutiert.
Anzeige
Kanada behandelt sie mit lässiger Ignoranz, Deutschland interpretiert sie
seit dem schmachvollen Abschneiden bei Pisa I wie eine Weltmeisterschaft in
Mathe, Lesen und Naturwissenschaften. Wobei sich ausländische Politiker
angesichts von Pisa-Erfolgen auch nicht nach deutschem Muster in die Brust
werfen und die Erfolge der Schüler zu den ihren machen.
Die Geschäftsführerin der südkoreanisch-amerikanischen Bildungskommission,
Jai Ok Shim, wirkt eher bedrückt darüber, dass Südkoreas Schüler laut
neuester Pisa-Studie weltweit am besten lesen und rechnen können. Jai Ok
Shim zufolge ist der Erfolg Ausdruck eines ausufernden Nachhilfesektors und
überambitionierter Eltern. "Unsere Eltern sagen ihren Kindern: Wenn du nur
drei Stunden schläfst, bist du erfolgreich", erzählt sie.
Drei Viertel der Schüler nähmen inzwischen Unterricht in Nachhilfeschulen -
und würden einschlafen, wenn sie anschließend im Unterricht der staatlichen
Schulen säßen. "Wir haben ein ernsthaftes Problem", lautet das Urteil Jai
Ok Shims trotz des internationalen Spitzenplatzes.
Auch die niederländische Wissenschaftlerin Manuela du Boys-Reymond von der
Universität Leiden ist nicht nach Berlin gekommen, um eine niederländische
Erfolgsstory zu referieren - obwohl die heimischen Schüler im Pisa-Ranking
überdurchschnittlich gut abschneiden. Die bedenklichste Entwicklung sei die
Ghettobildung in den Städten.
In solchen Brennpunkten gebe es Problemschulen mit eigener Dynamik. "Wir
befinden uns an der Schwelle zu einer prekären Situation", meint du
Boys-Reymond. Solche Problemschulen in städtischen Brennpunkten gibt es in
allen Ländern. Einig sind sich die Experten darin, dass die Probleme nicht
allein in den Schulen zu lösen sind, sondern das soziale und räumliche
Umfeld einzubeziehen ist.
Die Kanadier sind hier wiederum Vorbild. Ihre Community Schools sind fest
im Stadtteil verankert, die Vertreter der Kommune entscheiden mit über
Lehrer und Finanzen einer Schule. Und wenn es Probleme gibt, bekommt die
Schule eben mehr Geld und bessere Lehrer. Und was macht Kanadas Schüler
sonst noch so erfolgreich? Offenbar, dass es auch ziemlich gerecht zugeht.
Die 13 unterschiedlichen Schulsysteme - in Kanada ist Bildung wie in
Deutschland föderal organisiert - haben eines gemeinsam: eine Grundschule,
die alle Schüler acht Jahre lang bis zum 14. Lebensjahr besuchen, und
Ganztagsschulen.
Das gemeinsame Lernen eint uns, sagt Boehm über sein Land. Davon würden
besonders Kinder nicht kanadischer Herkunft und sozial Benachteiligte
profitieren. Der Punkt wurde auf dem Podium nicht vertieft. Man ist eben in
Deutschland.
http://www.taz.de/1/zukunft/bildung/artikel/1/wo-man-pisa-links-liegen-laesst/