Inklusion
Donnerstag, 22. Dezember 2011 12:47 - Von Regina Köhler und Florentine Anders
Die Berliner Grundschulen sollen mehr behinderte Kinder aufnehmen. Doch schon jetzt gibt es kaum Sonderpädagogen und Schulhelfer.
Die Lernwerkstatt der Reineke-Fuchs-Grundschule ist geschlossen. Auch der Werkstattraum für die älteren Schüler steht leer. Bisher haben hier täglich neun geistig behinderte Kinder gelernt. Doch das ist nicht mehr möglich, weil die Schule zu wenig Sozialpädagogen hat. Christiane Brandis, deren Sohn Ludwig in der Werkstatt lesen und schreiben geübt hat, ist darüber höchst verärgert. „Mein Sohn wird derzeit lediglich betreut, Unterricht findet für ihn nicht mehr statt“, sagt sie.
Wie Ludwig geht es auch den acht anderen geistig behinderten Kindern an der Reineke-Fuchs-Grundschule. Zwar werden sie von den Schulhelfern und zwei Referendarinnen betreut, unterrichtet werden sie aber nicht. „Beide Sonderpädagoginnen sind im Schwangerschaftsurlaub“, sagt Elternsprecherin Brandis. Bisher sei es der Schule nicht gelungen, neue Fachkräfte zu finden. Was die Eltern dabei besonders erbost, ist die Tatsache, dass von der zuständigen Bildungsverwaltung keine Hilfe kommt. „Die Schule wird alleingelassen“, sagt Brandis. Schulleiterin Margot Koch sei lediglich mitgeteilt worden, dass sie sich aus dem Vertretungskräftepool Leute suchen soll. Doch dieser Pool sei leer. Fachkräfte seien dort jedenfalls nicht mehr zu finden, Sonderpädagogen schon gar nicht.
Recht auf gemeinsames Lernen
Mit diesem Problem kämpfen derzeit etliche Grundschulen in Berlin. Sie haben sich auf den Weg gemacht, förderbedürftige Kinder in die Regelklassen zu integrieren, werden dann aber allein gelassen, wenn es mit der Personalausstattung nicht klappt. Dabei hat Deutschland bereits 2009 eine UN-Konvention unterzeichnet, die das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern – von Fachleuten Inklusion genannt – vorsieht und den Eltern das Recht einräumt, ihre behinderten Kinder an einer Regelschule anzumelden. Auch Berlin muss diese Konvention so schnell wie möglich umsetzen. Doch während die Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf seit Jahren steigt, bleibt die Zahl der Sonderpädagogen gleich. Auch die neue Koalition konnte sich nicht durchringen, diese Deckelung aufzuheben.
Christiane Brandis hatte Glück, dass die Reineke-Fuchs-Grundschule ihren Sohn Ludwig aufgenommen hat. „In unserem Einzugsgebiet in Hermsdorf waren die zuständigen Grundschulen dazu jedenfalls nicht bereit“, sagt sie. Für die Mutter ist es deshalb umso schlimmer, dass die Schule mit ihrem Personalproblem nun allein dasteht.
Birgit Klimek, deren Sohn Jacob seit einem Jahr an der Reineke-Fuchs-Schule lernt, will jetzt einen Anwalt einschalten, um das Recht auf einen angemessenen Unterricht für ihren Sohn einzuklagen. „Wir haben lange nach einer Regelschule für Jacob gesucht“, sagt sie. Ihr Sohn habe das Down-Syndrom und brauche eine spezielle Förderung. Mit der Reineke-Fuchs-Grundschule seien sie bisher sehr zufrieden gewesen. „ Die Schule war gut mit zusätzlichem Personal ausgestattet, um die Herausforderung der Integration zu stemmen.“ Das sei nun vorbei und Hilfe nicht in Sicht. „ Die Lehrer dürfen jetzt nicht allein gelassen werden“, fordert Birgit Klimek.
Frank Heldt vom Landeselternausschuss spricht von einem besorgniserregenden Engpass an Sonderpädagogen. Es müssten dringend mehr Fachkräfte ausgebildet werden. „Gegenwärtig ist das Problem weder zeitlich noch finanziell zu lösen“, sagt er. Es sei im Gegenteil wie ein Sechser im Lotto, wenn Schulleiter im Vertretungskräftepool einen Sonderpädagogen finden würden.
Die Vorsitzende des Grundschulverbandes, Inge Hirschmann, bestätigt das. „Wenn man nach Wochen endlich jemanden gefunden hat, muss man damit rechnen, dass er schnell wieder weg ist“, sagt sie. Im Pool seien viele Lehramtsstudenten, die auf ein Referendariat warten und deshalb nur für kurze Zeit zur Verfügung stünden. Sonderpädagogen seien ohnehin sehr gefragt. „In diesem Bereich werden zu wenig Leute ausgebildet“, sagt Hirschmann.
Lehrer sind überfordert
Die Lehrer an der Reineke-Fuchs-Grundschule arbeiten bereits am Limit. Neben den neun Integrationskindern haben weitere 33 der insgesamt 340 Schüler Förderbedarf, weil sie Schwierigkeiten beim Lernen, mit der Sprache oder im Sozialverhalten haben. Hinzu kommt, dass 82 Prozent der Schüler nicht deutscher Herkunft sind, darunter 41 Roma-Kinder. Diese Kinder haben einen besonders hohen Sprachförderbedarf. Schulleiterin Margot Koch sagt, dass ihre Kollegen bisher mit viel Engagement versucht haben, allen Kindern gerecht zu werden. „Ohne Ersatz für die beiden Sonderpädagogen schaffen wir das aber nicht mehr.“
Auch an der Charlie-Chaplin-Grundschule im Märkischen Viertel können die Lehrer den Integrationskindern kaum noch gerecht werden. Weil Schulhelfer fehlen, müssen Lehrer im Unterricht ärztliche Hilfestellungen geben, berichtet Olaf Schelens vom Bezirksschulbeirat Reinickendorf. „Zwei Kinder mit Diabetes in der Schulanfangsphase müssen regelmäßig getestet und gespritzt werden, doch der Pflegedienst kommt nur ein Mal am Tag“, so der Elternvertreter. Ein Schulhelfer für die Kinder sei abgelehnt worden. „Auf diese Weise wird die Gesundheit der Kinder aufs Spiel gesetzt“, sagt Olaf Schelens. Der bildungspolitische Sprecher der Grünen, Özcan Mutlu, bezeichnet die Situation als Armutszeugnis für die Berliner Bildungspolitik. „Der Senat hat große Versprechungen bezüglich des gemeinsamen Lernens von behinderten und nicht behinderten Kindern gemacht, ohne dafür zu sorgen, dass ausreichend Fachkräfte da sind“, sagt er. Die Verantwortlichen seien in der Pflicht, den Schulen Mittel bereitzustellen, damit sie zusätzliche Sonderpädagogen, Erzieher und Sozialarbeiter einstellen können, forderte Mutlu.
Das Konzept der Inklusion
UN-Konvention: Ziel ist das gemeinsame Lernen aller Kinder, ganz gleich, ob sie behindert sind oder nicht. So sieht es die UN-Behindertenkonvention vor, die Deutschland 2009 ratifiziert hat. Fachleute bezeichnen dieses gemeinsame Lernen als Inklusion.
Förderschulen: Zunächst sollen laut Konzept vor allem die Kinder aus den Förderschulen für Lernbehinderte, Verhaltensauffällige und Sprachbehinderte in die Regelschulen aufgenommen werden. Der Förderbedarf soll nicht mehr diagnostiziert werden. Um das Elternwahlrecht zu erhalten, sollen jedoch ein bis zwei Förderzentren pro Bezirk erhalten bleiben.
Schwerpunktschulen: Für körperbehinderte, geistig behinderte oder sinnesbehinderte Kinder soll es zunächst Schwerpunktschulen für die Inklusion geben, da nicht alle Schulen die baulichen Voraussetzungen für die Aufnahme der Schüler haben. Ziel ist es, zunächst den Anteil dieser Kinder an den Regelschulen um zehn Prozent zu erhöhen.
Elternwille: In Berlin sollen die Eltern mit förderbedürftigen Kin
dern auch weiterhin entscheiden können, ob ihre Kinder an einer Regelschule oder an einem Förderzentrum lernen.
Erschienen am 22.12.2011