Referent*innen: Prof. Dr. Julia Asbrand (https://www.psychologie.hu-berlin.de/de/mitarbeiter/1692872) und Matthias Siebert (https://www.schulpsychologie-berlin.de/ueber-uns/)

Input Prof. Dr. Julia Asbrand (HU Berlin, Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie u.-psychotherapie)

Psychische Störungen

  • Krankheitswertige Veränderungen des Erlebens und Verhaltens, zentral: Betroffene/Umfeld leiden unter den Symptomen
  • Häufige Störungsbilder bei Kindern/Jugendlichen auch in Nicht-Pandemie-Zeiten: Ängste (10%), Depressionen (5%), ADHS (2%), Störung des Sozialverhaltens (7,5%) – ca. 20% aller Kinder und Jugendlichen sind „normalerweise“ betroffen
  • Sie entstehen durch Stress (soziale Belastungen, schwierige Lebensereignisse, Prüfungen, Drogen etc.) und sind abhängig von der Anfälligkeit des Individuums. Aktuell kommt einiges dazu (Virus, keine Schule, keine Freund:innen, Homeschooling, Isolation, finanzielle Sorgen, keine Hobbies)  es ist durchaus verständlich, dass Menschen daraufhin Symptome zeigen.
  • Betreffen 1/5 bis 1/3 der Kinder/Jugendlichen
  • Äußern sich unterschiedlich nach innen (z. B. Depressionen) oder außen (z. B. ADHS)
  • Störungen entstehen, wenn das Fass überläuft durch Stress

COVID-19- Auswirkungen

  • Noch gibt es nicht so viele Studien, auf die man zurückgreifen kann.
  • Nach der 1. Welle ging es ca. 70% der Kinder/Jugendlichen gut (von davor etwa 80%), aktuell geht es nur noch 50-60 & der Kinder und Jugendlichen gut.
  • Moderatoren für psychische Belastung: Häusliche Gewalt, sozioökonomischer Status, wenig körperliche Aktivität, wenig Wissen über COVID-19, innerfamiliäre Konflikte, wenig Diskussion mit Eltern über Pandemie…
  • Was ist bei Familien besonders? Kreislauf: Kind geht‘s gut, dann geht‘s Eltern gut und andersherum. Aber eben auch im Negativen ist dies so. Soziales System fällt weg durch Pandemie.
  • Zur Besserung der Situation gibt es einige Programme (z. B. Online Beratung Aury, Gruppenprogramme…).
  • Praxen sind momentan überfüllt. Den meisten Menschen in Behandlung geht es seit der Pandemie schlechter oder sehr viel schlechter, es gibt kaum noch freie Therapieplätze, die Wartelisten in Praxen und Kliniken werden immer länger.
  • Für alle belastend, für Familien besonders (kann sowohl gut als auch schlecht sein, da man sich auch stützen kann)

Ausblick in die Zukunft bis ins Jahr 2025

Risiken in der Zukunft:

  • Massiver Anstieg an psych. Erkrankungen, potentiell Suizide
  • Überlastung des Gesundheitssystems, nur noch Krisenintervention möglich.
  • Sozioemotionale Entwicklungsdefizite bei Kindern

Chancen:

  • Wendepunkt in der Gesellschaft
  • Reform des. Bildungssystems / Ausbau des Gesundheitssystems
  • Resilienz kann gefördert werden.

Forderungen der Kinder- und Jugendlichenpsycholog*innen

  • Ein Gremium, das sich explizit mit der vulnerablen Gruppe der Kinder und Jugendlichen befasst und ihre Stimmen direkt miteinbezieht.
  • Sichere Öffnung von Kitas und Schulen entsprechend der aktualisierten Vorschläge der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene.
  • Eine personelle Verstärkung in der Jugendhilfe und in den Jugendämtern.
  • Das Ermöglichen von pandemiegerechten Freizeitangeboten (z. B. Sportkurse, Jugendtreffs, die im Freien stattfinden).
  • Förderung und Ausbau einzel- und gruppenpädagogischer Angebote zur Bearbeitung der pandemiebedingten psychosozialen Belastungen und Prävention vor weiterer Chronifizierung.
  • Einen niedrigschwelligen Zugang zu unterstützenden, langfristig angesetzten psychosozialen Angeboten, die nach Bedarf auch aufsuchend stattfinden.

Was kann man selbst tun?
7 Säulen der Resilienz

  1. Optimismus
  2. Akzeptanz
  3. Lösungsorientierung
  4. Opferrolle verlassen Handlung
  5. Verantwortung übernehmen
  6. Netzwerkorientierung
  7. Zukunftsplanung

Das Gute ist:

  • Viele Probleme gehen vorüber.
  • Für viele Probleme gibt es Hilfe.
  • Unterstützung gibt es auf vielen Ebenen.

Risiko: „Inkubationszeit“ psychischer Störungen oft lang
Chance: Folgen sind nicht unvermeidbar, Handeln ist notwendig

Wo kann Hilfe gesucht werden bei psychischen Krisen und Problemen:

  • Hausärzt*innen/Kinderärzt*innen
  • Beratungsstellen
  • Vertrauenslehrer*innen
  • Psychotherapie

Input Matthias Siebert (Vorsitzender des Landesverbands Schulpsychologie Berlin)

Schulpsychologie ist angewandte Psychologie für die Schule (BDP) – alle Aspekte der Psychologie finden sich dort wieder.

Ist die Pandemie eine psychologische Krise?

  • Ja, u. a. da es eine Dysbalance gibt zwischen Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten. Viele sehen es als erhebliche und dauerhafte Belastung

Die Pandemie ist anders als die typische Krise, da es immer wieder Schockerlebnisse gibt, die die Handlungsstrategien auch durcheinander bringen. Krisen werden individuell erlebt und bewältigt. Der Mensch ist sehr anpassungsfähig und verfügt über Bewältigungsmechanismen. Dazu gehört auch die Verdrängung oder Verharmlosung, Leugnung, Verzerrung. Oder manch eine*r reagiert mit Überreaktion, Aktionismus, Fixierung. Ängste und das Gefühl von Hilflosigkeit will Mensch vermeiden.

Krisenmanagement zur Zeit

  • Schulpsychologische Krisenintervention (z. B. Telefonate, Beratungsgespräche)
  • Situation als Krise anzuerkennen hilft
  • Anerkennen, dass diese Krise ein Ausnahmezustand ist und anders ist, sie betrifft jede*n und überall
  • Krisen werden bewältigt
  • Krisen als Chance betrachten

Wichtige Fähigkeit: Ambiguitätstoleranz

  • Aushalten, dass es Widersprüche gibt in der Pandemie.

Löst die Krise psychische Störungen aus?

  • Vermutlich werden eher vorhandene Störungen verstärkt.
  • Die Krise löst vor allem seelische Notlagen aus. Diese sind keine psychischen Störungen – eher akute und massive psychische Belastung
  • Pathologisierung fördert Passivität (Teufelskreis der Hilflosigkeit)
  • Akute Belastungsreaktion als normale Reaktion, es ist keine klinische Störung (Ziel: Entpathologisierung)

Ängste und Stressoren wirken ganzheitlich

  • Covid-Stress-Syndrom (chronisch kollektive Angst)
  • Krise beeinträchtigt Grundbedürfnisse nach Verbundenheit, Freiheit, Autonomie
  • Langanhaltende Situation ist Gift für Kinder/Jugendliche

Zu viel Stress ist nicht förderlich und führt zum Blackout bei Kindern/Jugendlichen

Was brauchen Schüler*innen?

  • Im Sozialraum Schule erst einmal in Ruhe ankommen dürfen, nach lange Phase des Homeschoolings brauchen SuS die Möglichkeit der Gespräche, des Austauschs.
  • Kinder und Jugendlichen sollten sich gesehen, ernst genommen fühlen
  • Langandauernde erhebliche Beeinträchtigungen anerkennen
  • Lehrkräfte müssen Ängste durch Beziehungsgestaltung und Transparenz reduzieren
  • Selbstwirksamkeitserwartung fördern.

Belastungsfaktoren für Lehrpersonal und Eltern sind auch relevant.

Belastend für Eltern:

  • Alltagsorganisation
  • Rollenveränderung
  • Sorge um Gesundheit
  • Finanzielle Sorgen

Konsequenzen: Erschöpfung, Überforderung, Schuldgefühle, Wut, Dilemma-Situation

Rat für Eltern:

  • Persönliche Beratungsstellen aufsuchen, z. B. Schulpsychologie, Erziehungs- und Familienberatungsstellen.
  • Es gibt zahlreiche Informationen und Anlaufstellen im Internet
  • Ein Anerkennen der Krise kann helfen
  • Mit-leiden vs. Mit-fühlen
  • Struktur und Kontakt einfordern vom Kind/Jugendlichen

Was brauchen wir?

  • Vertrauen in die eigene Kompetenz
  • Andere, die uns beistehen. Gemeinsamkeit
  • Glaube daran, dass es wieder gut wird

Forderungen

  • Schaffung von durchgehenden Präsenzangeboten für alle Lernenden, auch während eines Lockdowns unter psychosozialen Gesichtspunkten
  • Präventionsangebote schaffen als Einzel- und Gruppenangebote, Sport, Entspannung, Austausch, Jugendtreffs etc. in und außerhalb der Schule
  • Den Lernenden nach der Rückkehr in die Schule Raum/Zeit für Gespräche und Austausch über Erfahrungen während des Homeschoolings geben. So können Probleme erkannt und bearbeitet werden. Nicht direkt mit Tests, Klassenarbeiten und Klausuren starten.
  • Zurückschrauben von Anforderungen: kein Probejahr, kein Notendruck, keine Verschlechterung zum Vorjahr
  • Bekanntmachung, Sicherung und Ausbau eines niedrigschwelligen Zugangs zu unterstützenden, langfristig angesetzten psychosozialen (Beratungs-) Angeboten (z. B. in den SIBUZen, Schulstationen, Jugendhilfe). Zudem Angebote zur Krisenbewältigung und Therapieangebote sichern und an Bedarf anpassen.

Linksammlung und weiterführende Informationen

Übersicht:
1. Anlaufstellen
2. Studien zum Thema
3. Offener Brief/Forderungen

1. Anlaufstellen bei seelischem und psychischem Hilfebedarf:

Infoseite zu Corona für Kinder, Jugendliche und Erwachsene: https://psychologische-coronahilfe.de/

Der Berliner Krisendienst hilft schnell und qualifiziert bei psychosozialen Krisen bis hin zu akuten seelischen und psychiatrischen Notsituationen. Kostenlos. 24 Stunden am Tag. An 9 Berliner Standorten auch in Ihrer Nähe. Auf Wunsch anonym. Telefonisch, persönlich und in zugespitzten Situationen vor Ort www.berliner-krisendienst.de/

Organisation des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten zur langfristigen (!) psychotherapeutischen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen: https://bvvp.de/kinder- brauchen-mehr-jugend-braucht-mehr/

Psychiatrische Hilfen/Kliniken/Notfallambulanzen in den Berliner Bezirken
https://www.berlin.de/lb/psychiatrie/in-den-bezirken/bezirksseiten/

Drogennotdienst, auch Entzug- und Therapie sofort. Rechtsberatung Beratung in mehreren Sprachen möglich: Genthiner Straße 48, 10785 Berlin, Telefon 030.19 237, 24h erreichbar täglich geöffnet

Schulpsychologie: www.berlin.de/sen/bildung/unterstuetzung/schulpsychologie/

2. Studien zum Thema mit Zahlen und Fakten, einige Beispiele:

COPSY-Studie (COPSY = Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
Es wurden im Mai und Juni 2020 1.040 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren sowie 1.586 Eltern von 7- bis 17-Jährigen zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit, die Lebensqualität und das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen befragt. 40,2 % der befragten 11- bis 17-Jährigen gaben eine geminderte Lebensqualität an, bei 31,0 % der 7- bis 17-Jährigen lagen psychische Auffälligkeiten vor. www.uke.de/allgemein/presse/pressemitteilungen/detailseite_96962.html

Bundesweiten Studie „JuCo 2“ der Uni Hildesheim:
Wie erleben Jugendliche die Corona-Krise? Ein Forschungsteam der Universitäten Hildesheim und Frankfurt gibt erste Ergebnisse der zweiten bundesweiten Befragung von Jugendlichen in der Corona- Zeit bekannt. Über 7.000 Jugendliche und junge Erwachsene haben an der Befragung teilgenommen.
www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/angst-vor-der-zukunft-jugendalltag-2020-erste-ergebnisse-der- bundesweiten-studie-juco-2/

Die ersten Ergebnisse zeigen eindrücklich, wie sehr sich der Lebensalltag der jungen Menschen in den unterschiedlichen Lebensbereichen durch die Corona Pandemie verändert hat und wie sehr sich dies auf ihr Empfinden und Erleben auswirkt.

Studie im Auftrag von DAK Gesundheit Mai 2020 mit 1005 Eltern und Kindern/Jugendlichen: 18,0 % der Kinder und Jugendlichen machen sich häufig Sorgen wegen der Auswirkungen der COVID-19- Pandemie machen, bezogen auf Themen wie Gesellschaft, Schule oder wirtschaftliche Folgen der Pandemie. Zusätzlich gaben 19,0 % der Kinder und Jugendlichen an, sich Sorgen um eine mögliche eigene Erkrankung an COVID-19 oder die einer nahestehenden Person zu machen.
www.dak.de/dak/download/forsa-studie-2266768.pdf

3. Offener Brief von Psycholog:innen, Kinder- & Jugendlichenpsychotherapeut:innen und Kinder- & Jugendlichenpsychiater:innen,
Mitinitiatorin Julia Asbrand
https://offener-brief-kiju.de/
(unterzeichnet von 400 Mitarbeiter:innen in Kinder- und Jugendpsychiatrien, psychotherapeutischen (Hochschul-) Ambulanzen für Kinder und Jugendliche und in (schul-)psychologischen Beratungs- und Frühförderstellen, Fachberater:innen und Kinder- und Jugendlichentherapeut:innen)

Auswirkungen der Pandemie:
(1) Anstieg psychischer Belastung bei Kindern und Jugendlichen (Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, Essstörungen, Substanzmissbrauch, Zunahme der Suizidalität, Spannungen im häuslichen Umfeld, häuslicher Gewalt, Leistungsabfall und Versagensängsten, stark erhöhtem Medienkonsum).

(2) Schwierigkeiten in der Versorgung:
Die starke Zunahme dieser Probleme hat zur Folge, dass reguläre Behandlungen zugunsten von Kriseninterventionen aufgeschoben werden oder ausfallen müssen. Der Fokus liegt auf stark belasteten Kindern und Jugendlichen, so dass viele Patient:innen nicht hinreichend versorgt werden.

Wie können Kinder und Jugendliche unterstützt werden?
Die Bedürfnisse und die Perspektive von Kindern und Jugendlichen müssen in den Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung mit hoher Priorität miteinbezogen werden, insbesondere bei der Abwägung von Prioritäten, Risiken und Kollateralschäden. Der Zeitraum eines Jahres im Leben eines Kindes oder eines Jugendlichen ist sehr lang, potentielle Nebenwirkungen und negative Auswirkungen der bisherigen Maßnahmen sind bereits deutlich spürbar.

Ein vom Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) initiiertes breites Bündnis von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, -psychiater*innen und Kinder- und Jugendärzt*innen fordert ein entschlossenes Handeln der Politik, um dem massiven Leiden der Kinder und Jugendlichen in der Corona- Krise mit einem Maßnahmenpaket entgegenzuwirken.
Zusammenfassung: https://bvvp.de/kinder-brauchen-mehr-jugend-braucht-mehr/ Zentrale Forderungen (zu jeder Forderung gibt es ein kurzes Video):

  • Gründung eines Jugend-/Kinderrats analog dem Ethikrat
  • Einrichtung einer zentralen, deutschlandweit beworbenen Hilfsnummer für Kinder und Jugendliche in Not
  • Umsonst, für alle und draußen: tägliche Sport-, Bewegungs- und kulturelle Aktivitäten an öffentlich zugänglichen Orten
  • Niederschwellige und längerfristig angelegte Kurs- und Projektangebote für Kinder und Jugendliche außerhalb des Schulunterrichts
  • Initiative zur Anwerbung von Honorarkräften unter soloselbstständigen Kunstschaffenden und beschäftigungslos gewordenen Personen aus dem Kultur- und Sportbereich zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen.